27. Juli 2001

TIBET INFORMATION NETWORK

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Erste Berichte über das Vierte Arbeitsforum zu Tibet

In den letzten Wochen tauchten in der offiziellen chinesischen Presse erste Informationen über das Vierte Tibet-Arbeitsforum, das vom 25. - 27. Juni in Peking tagte, auf. Dieses ist von entscheidender politischer Bedeutung für die Festsetzung der Pekinger Tibet-Politik. Offizielle Mitteilungen über das Arbeitsforum, an dem alle sieben Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros der KP Chinas (CCP) teilnahmen, konzentrieren sich auf drei Schlüsselaspekte bei der Tibet-Politik: Konsolidierung des "Parteiaufbaus" im Sinne eines chinaweiten Aktionsplanes zur Aufrechterhaltung und Stärkung der CCP und der Beteuerung ihrer Legitimität; Hinführung der Wirtschaft von "beschleunigter Entwicklung" zu "einem Entwicklungsmodus des Überspringens" mit Hilfe weiterer staatlicher Investition und Subvention; Verbesserung der sozialen Lage von "grundlegender" zu "dauerhafter" Stabilität. Die bei dem Forum beschlossene Politik scheint auf eine weitere Assimilierung Tibets in das größere Gefüge der chinesischen Wirtschaft und Kultur ausgerichtet zu sein.

Obwohl noch nicht alle Details bekannt wurden, weisen die grundlegenden politischen Richtlinien, wie sie in der chinesischen Presse erschienen sind, auf ein wachsendes Selbstvertrauen in Peking bezüglich seiner Tibet-Politik. Alles - die Attacken auf den Dalai Lama, die politische und ideologische Indoktrinierung, das beschleunigte Wirtschaftswachstum im Einklang mit der zentralen Kampagne zur Erschließung der westlichen Regionen Chinas und die Anstrengungen, die Kontrolle über Kultur und Religion zu verstärken - scheint in dem "neuen Jahrhundert der Tibet-Arbeit" weiter betrieben zu werden. Seit Anfang Juli wurden Parteimitglieder und staatliche Angestellte in der Autonomen Region Tibet (TAR) angehalten, Seminare über die bei dem Forum ausgearbeiteten politischen Konzepte zu besuchen.

Das Erste Arbeitsforum zu Tibet fand 1980 in der auf die Kulturrevolution folgenden Zeit der Liberalisierung statt und das zweite 1984. Beide wurden von gemäßigten Parteifunktionären wie Hu Yaobang bestimmt, weshalb relativ liberale Richtlinien für die Tibet-Arbeit formuliert wurden. Das Dritte Tibet-Arbeitsforum, das 1994 im Anschluß an die großen Demonstrationen Ende der 80-er Jahre tagte, kritisierte die frühere Tibet-Politik, weil sie zu liberal gewesen sei und zu viele Zugeständnisse an tibetische Nationalisten gemacht hätte, und schloß die Möglichkeit einer "tibetisierten" Form der Entwicklung effektiv aus. Die bei dem Dritten Forum ausgearbeitete Politik konzentrierte sich statt dessen auf die Integrierung Tibets in den größeren Rahmen der chinesischen Wirtschaft und Kultur. Das Dritte Forum pflichtete der Politik der raschen wirtschaftlichen Entwicklung und der "Öffnung" voll zu, was zum Einströmen von chinesischen Wanderarbeitern und Unternehmern nach Tibet führte. Damit wurde der moderaten Politik zugunsten tibetischer Kultur und Religion ein offizielles Ende gesetzt, und von diesem Zeitpunkt an konnten Tibeter auf keine große Rolle in Verwaltung und Wirtschaft mehr hoffen.

Das Vierte Arbeitsforum zu Tibet liefert ein zentrales Mandat für die im Augenblick in Tibet verfolgten politischen Strategien, ebenso wie allgemeine Richtlinien, welche künftig von den Funktionären und Verwaltungsbeamten der TAR bei allen Unternehmungen und Projekten eingehalten werden müssen. Die bei dem Zehnten Fünfjahresplan der TAR formulierten Pläne und die von Tibets Regierungsvertretern gehaltenen Reden tragen bereits den Stempel der nachträglich bei der Tagung in Peking vorgestellten Parteilinie. Anders als das Dritte Forum, das infolge der Ereignisse in Tibet gegenüber dem Ersten und Zweiten Forum einen größeren politischen Kurswechsel vornahm, scheint das Vierte Forum im großen und ganzen die bei dem Dritten Forum konzipierten politischen Richtlinien zu bestätigen und sie zu übernehmen. Entwicklung steht nach wie vor an erster Stelle, und die Parteilinie in bezug auf tibetische Kultur und Religion heißt weiterhin stärkere Kontrolle und Förderung einer "marxistischen Ausrichtung" von Kultur und Religion. So betonte Jiang Zemin bei dem Vierten Forum, wie wichtig es sei, "religiöse Angelegenheiten besser in den Griff zu bekommen, gegen jene auszuholen, welche die Religion zur Durchführung spalterischer krimineller Tätigkeiten benutzen, und den tibetischen Buddhismus energisch zur Adaption an den Sozialismus hinzuführen" (Xinhua, 30. Juni 2001). Der Dalai Lama bildet nach wie vor die Hauptzielscheibe für die offiziellen Attacken gegen Separatismus.

Politische Prioritäten

Die zwei Hauptaspekte von Pekings Tibet-Politik werden weiterhin Wirtschaftsentwicklung und soziale Stabilität sein, mit dem Ziel, die zentrale Kontrolle durch eine größere Assimilierung Tibets in einen chinesischen Einheitsstaat zu mehren. Die geplante Wirtschaftsentwicklung und Modernisierung werden Tibet noch mehr in die chinesische Wirtschaft integrieren, und gleichzeitig als Folge der starken Einwanderung von Leuten aus China und des Imports von Ideen und Verhaltensmustern aus China eine größere kulturelle Assimilation mit sich bringen. Ein im Exil lebendes ehemaliges Parteimitglied der TAR meint, die Regierung werde nun auch versuchen, den Tibetern "Zuckerbrot" zu reichen: "Den Background für die Wirtschaftspolitik bildet eine neue Phase im Kampf gegen den Dalai Lama und die feindlichen westlichen Kräfte. Der Staat will den Lebensstandard verbessern, um das Herz der Tibeter zu gewinnen, so daß sie nicht mehr dem spirituellen Einfluß des Dalai Lama unterliegen".

Die Regierung erklärt unverhohlen, daß die Wirtschaftsentwicklung Tibets nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Angelegenheit und wesentlich bei dem Streben nach Stabilität sei. Der chinesische Präsident Jiang Zemin und Premierminister Zhu Rongji nannten bei dem Vierten Tibet-Arbeitsforum die Entwicklung von Tibets Wirtschaft als politische Priorität. So sagte Zhu Rongji: "Die speziellen, von der Zentralregierung Tibet gegenüber beschlossenen Subventionsmodalitäten und politischen Strategien tragen nicht nur den besonderen Schwierigkeiten Tibets Rechnung. Aus der Sicht der Wahrung der Einheit unter den Nationalitäten, der Einheit des Mutterlandes und der staatlichen Sicherheit sind sie auch von der Lage Tibets und dem allgemeinen Stand der Dinge in China geboten [chin. shi xing shi de yo qiu, shi da ju de xu yao]".

Der "Parteiaufbau" war bei dem Vierten Forum ein wichtiges Thema, im Einklang mit einer ganz China betreffenden Kampagne zur Vermehrung des Ansehens und zur Stärkung der Legitimität der Kommunistischen Partei bei fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Reform. In Tibet überwiegen politische Erwägungen über die offiziellen Bedenken wegen der Korruption in der Partei. Die Rolle der Parteimitglieder, die offiziell atheistisch sein und die "korrekte" Parteihaltung haben müssen, gilt als entscheidend für die Aufrechterhaltung der "Stabilität". Berichte über das Forum zeigen, daß es immer noch offizielle Befürchtungen wegen weiter bestehendem religiösem Glauben und Loyalität zum Dalai Lama innerhalb der Reihen der Kader gibt.

Das Vierte Arbeitsforum rief die Kader auf, den Wert des kulturellen Austausches zwischen den Nationalitäten zu schätzen und sich dem "kulturellen Separatismus" zu widersetzen. Dies deutet darauf hin, daß die Regierung weiterhin also nicht nur die tibetische Religion, sondern auch die tibetische Kultur im allgemeinen als eine Bedrohung für die Stabilität ansieht und beunruhigt ist wegen der Verbindungen zwischen tibetischer kultureller Identität und nationaler Identität. Das Forum reflektiert auch die gegenwärtige Haltung der Partei, die ethnische Kultur und charakteristische Besonderheiten als Hindernisse für "Entwicklung" betrachtet. Damit die politischen und wirtschaftlichen Ziele der Partei in Tibet erreicht werden können, scheint die Regierung es für notwendig zu halten, die Treue der Tibeter zu ihrer Religion und Kultur zu unterhöhlen.

Bei dem Vierten Forum betonte der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses (NPC) Li Peng, daß Tibet die einzige Region sei, für welche "die Zentralregierung vier Foren von Spezialisten einberufen und das ganze Land zur Mithilfe mobilisiert hat" (Tibet Daily, 6. Juli 2001). Obwohl damit das "Wohlwollen" der Partei und der chinesischen Nation Tibet gegenüber illustriert werden soll, ist die von der Zentralregierung Tibet zukommende Aufmerksamkeit im großen und ganzen eine Folge ihrer Besorgnis um die "Stabilität" und die strategische Bedeutung der Region. Peking präsentiert Tibet als völlig abhängig von der Zentralregierung und rechtfertigt damit - trotz des autonomen Status Tibets - die Kontrolle der Zentralregierung über die Wirtschaft zusätzlich zu der politischen Kontrolle, die sie bereits in der Region ausübt. Alle größeren politischen Entscheidungen werden entweder von dem zentralen Parteiorgan getroffen oder gebilligt, während das regionale Parteikomitee nur für deren Durchführung verantwortlich ist.

"Wichtige Aufgaben"

Bei einer Sitzung ranghoher Parteigenossen und Kader in Lhasa definierte der Parteisekretär Guo Jinlong die "wichtigen Aufgaben" des Vierten Tibet Arbeitsforums wie folgt: "Entschlossenes Ergreifen der gewaltigen Möglichkeiten, die sich bieten, um die westliche Entwicklungsstrategie in großem Maßstab zu verwirklichen und eine grundlegende stabile soziale Lage in Tibet zu schaffen; Hinarbeiten auf die Vermehrung des Wohlstands und auf permanente Stabilität in Tibet, Konzentration der Energie auf die Lösung der Hauptprobleme in bezug auf Tibets allgemeine Stabilität, sowie die Konsolidierung der Partei, Führung der Wirtschaft Tibets von einer beschleunigten Entwicklung zu einem 'Überspringmodus der Entwicklung' und Verbesserung von Tibets sozialer Lage von elementarer zu anhaltender Stabilität" (Tibet Daily, 6. Juli 2001).

Der Ausdruck "Überspringmodus (chin. kua yue shi) der Entwicklung" wurde schon im Zusammenhang mit der Kampagne zur Erschließung des Westens gebraucht. Als 1999 erstmals von der Kampagne die Rede war, sprach Legchog in seinem Regierungsarbeitsbericht von der Entwicklung im "Überspringmodus", einem Modell, welches "das konventionelle übertrifft" (chao chang gui) (Tibet Daily, 12. Juni 2000). Der zuvor genannte ehemalige, jetzt im Exil lebende Parteimann meint, der Ausdruck werde sowohl zur Umschreibung einer weiteren Beschleunigung von Tibets wirtschaftlicher Entwicklung als auch des erhöhten "Wohlwollens" der Zentralorgane verwendet: Sie gewähren Tibet einen Sonderstatus, indem sie die Mittel zu seiner raschen Entwicklung bereitstellen. "Obwohl Tibet ziemlich rückständig ist, betonen die Behörden nun, daß es mit der Hilfe der Zentralregierung und anderer Provinzen einen großen 'Vorwärtssprung' in seiner Entwicklung tun würde", meinte der ehemalige Kader.

Die bei dem Vierten Forum von dem chinesischen Premier Zhu Rongji für die Entwicklung formulierten allgemeinen Richtlinien scheinen im Einklang mit dem Zehnten Fünfjahresplan der TAR (2001-2005) und den jüngsten Entwicklungstrends zu stehen. Sie betreffen die Beschleunigung des Aufbaus der Infrastruktur, die Nutzbarmachung von Tibets gewaltigen Ressourcen und die Heranbildung von spezialisierten Erwerbszweigen und Fachindustrien - was sich wohl auf Unternehmungen wie tibetische Medizin und Bergbau bezieht. Zhu Rongji sprach auch über die Verbesserung der Landwirtschaft und Viehzucht als Grundlage für die Wirtschaft und die Notwendigkeit der Förderung von Wissenschaft, Technologie und Bildung, um Tibets Ressourcen an menschlichem Potential besser zu nutzen. Er erwähnte besonders die Förderung der Tourismusbranche, in der bereits in den letzten Jahren besonders im Hinblick auf den inländischen chinesischen Markt einige Anstrengungen unternommen wurden.

Zhu Rongji kündigte an, die Zentralregierung würde bei ihren direkten Investitionen und der Verwirklichung ihrer Vorzugspolitik in Tibet "noch einen Schritt weiter gehen". Der Staat wird in 117 Bauprojekten mit einem Gesamtgeldvolumen von 31,2 Mrd. Yuan (3,8 Mrd. US$) investieren, und andere chinesische Provinzen und Stadtbezirke in 70 Projekten mit einem Gesamtgeldvolumen von 1,06 Mrd. Yuan (People's Daily, 2. Juli 2001). Er betonte bei der Tagung, die gesteckten Entwicklungsziele seien nicht nur notwendig, sondern auch erreichbar (Xinhua, 29. Juni 2001). Diese Bemerkung zeigt, daß man sich offiziell bewußt ist, daß es bei manchen Kadern und Intellektuellen Zweifel hinsichtlich der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit der größeren Infrastrukturprojekte, wie sie bei der Entwicklung des Westens geplant sind.

Die von dem Vierten Tibet-Arbeitsforum verabschiedeten Grundrichtlinien liefern keinen Hinweis, daß die Regierung von ihrer derzeitigen Strategie, Tibets Entwicklung von oben nach unten zu betreiben, abrücken würde. TIN zugegangene Berichte zeigen, daß diese Vorgehensweise oftmals den lokalen wirtschaftlichen Erfordernissen keine Rechnung trägt und bei vielen Tibetern Frustrierung und Unzufriedenheit hervorruft. Es ist zu befürchten, daß eine noch stärkere Integrierung in das chinesische Staatsgebilde für das Überleben der tibetischen Kultur eine sehr reale Bedrohung darstellt. Eine der gravierendsten Klagen von Tibetern ist, daß sie kein Mitspracherecht und keine Kontrolle über diesen Prozeß haben.

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